Digitalisierung und Kultur
Digitalisierung und Kultur
Klaus-Dieter Müller
Inhaltsübersicht
1. Einleitung: Ein Rückblick
2. Medienkultur
3. Digitale Lernwelten
4. Digitale Demenz
5. Digitalisierung und Kultur – Die Frage des Alters
6. Der Streit um das Hirn
7. Digitalisierung, Netze und das Selbst
8. Möglichkeiten und Grenzen des Vergleichs von Kulturen
9. Der chinesische Geist
10. Medien in China
11. Diskussion
1. Einleitung: Ein Rückblick
Als vor 20 Jahren das Internet die Welt zu erobern begann, produzierte dies eine bis heute nicht erschöpfte Anzahl von Veröffentlichungen, um das Internet zu denken. Es war von Beginn an klar, dass die neue Technologie das Leben verändern würde – nur wie? Die in den 90er Jahren formulierten Begriffe, Hoffnungen und Bedenken sind auch 20 Jahre später noch gegenwärtig. Der erste Komplex drehte sich um Virtualität, Identität, körperlose Psyche, anthropologische Profilierung usw.; der zweite Komplex befasste sich mit der sehr komplizierten Kategorie der Öffentlichkeit, und hier war man sehr schnell bei der sog. Politikvermittlung, denn Politik ist Begründung und Entscheidung im öffentlichen Raum. Der dritte Komplex war derjenige der Partizipation. Er hängt natürlich mit der Politikvermittlung zusammen; das Internet ermutigte besonders diejenigen Autoren zu einer Stellungnahme, die Anhänger einer partizipativen, input-orientierten Demokratie waren. Output-orientierte Analysen und Prognosen beschäftigten sich eher mit dem Nutzen der neuen Technologie für Verwaltungshandeln.[1]
In meiner Dissertation von 2005 (als die Debatte ihren Höhepunkt erreicht hatte) habe daher zunächst zwischen einer soziologischen, einer publizistischen und einer politologischen Sichtweise[2] unterschieden sowie in einer konzeptionellen Verdichtung in Anlehnung an verschiedene Autoren zwischen Netzoptimisten, Netzneutralisten und Netzpessimisten.[3] Wenn man auf die Diskussion um die Jahrtausendwende zurückblickt, so kann man möglicherweise sagen, dass sie von Hoffnungen der normativ geprägten Gesellschaftswissenschaften geprägt war. Während diese die Welt interpretierten, hat die Wirtschaft sie verändert. Der Zugriff des Kapitalismus auf die sog. neuen Medien war und ist das entscheidende Momentum. Zwar gibt es digitalen Widerstand in Diktaturen und digitale Wahlkämpfe in den USA (die in Deutschland nicht vorankommen), aber die Demokratie hat sich qualitativ nicht zum besseren entwickelt. Anonyme shitstorms und anonyme Plagiatsjäger delegitimieren die Politik, indem sie einzelne Personen delegitimieren. Der erhoffte Diskurs ist dies jedenfalls nicht. Man kann an dieser Stelle sagen: Die politologische Sichtweise war am naivsten, hier haben die Netzpessimisten gewonnen.
Informationstechnische Innovationen richten sich unmittelbar auf die gesellschaftliche Elementaroperation der Kommunikation und damit auf die Veränderung der Gesellschaft selbst. Dies ist der Forschungsansatz der Kommunikationswissenschaft. Sie ist eine Querschnittsdisziplin mit einer Nähe zur Soziologie; beide Disziplinen versuchen sich des Internets zu bemächtigen. Die Soziologie ist eine Handlungswissenschaft: Die Gesellschaft ist das Ergebnis menschlichen Handelns, und die Soziologen denken darüber nach, warum die Menschen so handeln, wie sie es eben tun.[4] Man kann nun das Internet natürlich endlos hinsichtlich seiner Strukturen und Funktionsweisen diskutieren; doch letztlich geht es um den Menschen als handelndes Wesen, und dies umso mehr, wenn man am Ende dieses kleinen Aufsatzes zu einem Kulturvergleich kommen möchte.
Denn neben dem Primat der Wirtschaft wurde vor vielen Jahren ein weiteres Element kaum berücksichtigt: Die Globalisierung und damit das Zusammentreffen unterschiedlicher Kulturen. Die Kultur ist ein besonders wertbesetztes Teilsystem der Gesellschaft. Sie umschreibt in einer ersten Annäherung alles das, was der Mensch geschaffen hat, was also nicht naturgegeben ist. Enger gefasst setzt sie Kommunikation und Wahrnehmung, Fremdes und Eigenes, Tradition und Moderne in Bezug zueinander; und noch spezifischer umfasst Kultur die Ebene der individuellen und gruppenspezifischen Bildung sowie die Ebene der sozialen Beziehungen. Erstes meint (verkürzt) die Entwicklung und Prägung der emotionalen und sozialen Persönlichkeit (Sozialisation), letzteres bezeichnet das Feld der individuellen sozialen Fähigkeiten wie Umgangsformen, Kultiviertheit und die gegenkulturelle Abweichung.
Die folgenden Überlegungen befassen sich mit dem Verhältnis von Medien, Individuum und Gesellschaft; mit der normativ beladenen Frage nach den Konsequenzen der Medialisierung für die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen; und in diesem Zusammenhang auch mit dem generativen Verhalten. Der digitale Wandel wird von einer Konjunktur der Hirnforschung begleitet. Weil aber Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft sich in einem wechselseitig kritischen Verhältnis gegenüberstehen, sind endgültige Aussagen nur schwer zu treffen. Der Aufsatz versucht das Thema Selbstkonzept kulturübergreifend zu skizzieren.
2. Medienkultur
Kultur, besonders in der Ausprägung als Kunst, ist etwas sehr Schönes und die Seele Ansprechendes. Kultur polarisiert aber auch und gibt zu den „schwärzesten Gedanken“ Anlass, weswegen Kulturpessimismus zu einem bestimmenden Begriff geworden ist. In einer speziellen Ausprägung ist der Kulturpessimismus mit der Frankfurter Schule verbunden, welche von einer Kulturindustrie sprach, der sich die Gesellschaft unterwirft. Filme, Radio, Fernsehen produzieren Formate die zur Fremdbestimmung führen und eine Pseudo-Individualität vorgaukeln. Das Leben der eigenen Individualität besteht letztlich aus der Übernahme genormter Medieninhalte. In ihren Theorien nahmen Horkheimer und Adorno die Allgegenwärtigkeit von Medienkultur vorweg.[5]
Medienkultur ist Teil der Moderne. Die Moderne wiederum ist ein ziemlich diffuser Begriff in aller Munde. Es ist hier nicht der Ort um zu diskutieren, wo und wann in der Geschichte sie ihren Anfang nahm. Jedenfalls ist die Moderne verbunden mit Fortschritt, Wandel, Expansion, Steigerung, Beschleunigung. Technologie und Kultur gehen eine Verbindung ein. An dieser Stelle treten die Medien auf den Plan. Sie stehen wie das Subjekt und die Gesellschaft in einer Wechselwirkung zur Kultur.
Abbildung 1: Dreiecksverhältnis Kultur (siehe Download Version pdf)
Die Betrachtungsweise entstammt einem Buch von Andreas Ziemann, der immerhin die Kultur in den Mittelpunkt stellt. Jeder Bereich steht in einer besonderen Wechselwirkung zur Kultur. Medien machen eine Kultur beobachtbar und vermittelbar.[6]
Der relative Primat der Kultur (Bezugsfeld) scheint mir immer noch realistisch zu sein. Nur so lässt sich ja auch die Nutzung der Medien kulturvergleichend diskutieren. Viele Denkmodelle gehen jedoch in eine andere Richtung und stellen die Medien in den Mittelpunkt, weil die Medien nach diesen Theorien die Wirklichkeit überhaupt erst konstruieren. Im Vergleich zur obigen Abbildung sähe dies so aus.
Abbildung 2: Dreiecksverhältnis Medien (siehe Download Version pdf)
Medienkultur umschreibt so den Umstand, dass unsere gesamte Wirklichkeitskonstruktion durch eine Kommunikation erfolgt, die zunehmend medienvermittelt ist. Es wird auch schon von den Medien als „Wahrnehmungsorgan der Gesellschaft“ gesprochen. Medienkultur kann aber auch verstanden werden als vorläufig letzter Schritt in einer Abfolge von Möglichkeiten der Kommunikation in einer Gesellschaft. Auf die traditionale orale Kultur folgte die Schriftkultur, der Schriftkultur mit der Erfindung des Buchdrucks die Printkultur und dieser die globale elektronische Kultur (Radio, Telefon, Fernsehen, Internet, Mobilkommunikation). Mit dem Wandel der Medien veränderten sich Informationsnetzwerke, Rollenbeziehungen und Gruppenidentitäten der Menschen, ja man kann sagen: Wir können die Spezifik einer Kultur und Gesellschaft im Hinblick auf deren Leitmedien begreifen. Wie diese sich wandeln, ändern sich die Formen der Kultur und Gesellschaft. Gleichwohl kann auch dieser Ansatz wieder relativiert werden, denn der Gedanke eines einzigen Leitmediums ist sehr vereinfacht. Erstens macht Cross-Media die Bestimmung schwierig und zweitens gibt es in einer modernen Gesellschaft sehr viele (technische) Kommunikationsformen. Zu sprechen wäre demnach von hochgradig komplexen Arrangements von verschiedenen Formen des medienbasierten, kommunikativen Handelns.[7]
Medienkultur kann im Anschluss an den ersten Komplex (das Internet zu denken) auch als Cyberkultur diskutiert werden. Hier ist man in den letzten Jahren aber realistischer geworden, obwohl der Utopismus nicht völlig verschwunden ist. Der Ausdruck impliziert die Annahme, dass die Cyberkultur vollkommen anders wäre als bisherige Formen von Kultur, und zwar wegen der Reichweite ihrer Technisierung. Man muss vorsichtig sein, die auf das Internet bezogenen Utopien zum Bezugspunkt jeglicher Beschreibung von Medienkultur zu machen.
Im weiten Feld der Kultursoziologie hat auch der sog. radikale Konstruktivismus eine gewisse Bedeutung erreicht. Das Zentralthema der Konstruktivisten ist der Zusammenhang zwischen Wahrnehmung, Erkennen und Wirklichkeit. Medien liefern demnach kein objektives Abbild der Wirklichkeit, sie werden vielmehr benutzt um Wirklichkeit zu konstruieren. Medien konstituieren sich durch die Koppelung von Kognition (das psychische Selbst) und Kommunikation (als Basis des Sozialsystems). Man erkennt Bezüge zu den Gedanken von Heiner Mühlmann, weil dieser Ansatz von einer kulturellen Programmierung des Hirns durch Sozialisation spricht und ähnlich wie bei Mühlmann die Trennung der zwei großen Denkrichtungen Technikzentrierung und Anthropologie überwunden werden soll. Die Wurzeln des radikalen Konstruktivismus liegen im metadisziplinären Bereich der Kybernetik, der Psychologie und der Neurobiologie. Medienkultur ist so der Zusammenhang von Kognition, Medien, Kommunikation und Kultur im Prozess der Wirklichkeitskonstruktion.
Die Einwände sind jedoch ähnlich: Biologistische Setzungen und funktionalistische Annahmen sind der Widersprüchlichkeit und Komplexität heutiger Medienkulturen nicht angemessen. Eine Medienkultur ist kein „Programm“.[8]
3. Digitale Lernwelten
Ein wesentlicher Teil der Kultur ist das Erziehungswesen, dies sowohl hinsichtlich der Sozialisation als auch der Vermittlung von Fähigkeiten. Auch hier stehen sich Netzoptimisten und Netzpessimisten gegenüber. Die Optimisten erkennen die Möglichkeiten für Unterricht und Lernen und sprechen von digitalen Lernwelten;[9] die Pessimisten beklagen den Verfall elementarer Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben und sprechen von digitaler Demenz.[10] Wie immer, wenn es um die Erziehung von Kindern und Jugendlichen geht, weiß man erst 20 Jahre später, ob man Fehler gemacht hat und diese überhaupt zu verhindern gewesen wären.
Die digitalen Medien durchdringen zunehmend formelle wie informelle Lernprozesse. Auch der vom Salzburg Urstein Institut initiierte Studiengang Media Innovation Management beruht auf diesem Umstand. Es entstehen digitale Lernwelten sowohl als feste, eingrenzbare und lokalisierbare Bildungsangebote als auch geografisch entgrenzte und nicht-formalisierte Angebotsstrukturen. Das klassische E-Learning ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Autor bzw. Dozent dem Studierenden auf einer speziellen Plattform Inhalte und Werkzeuge zur Verfügung stellt, verbunden mit dem Ziel und der Erwartung, dass diese vom Lernenden tatsächlich genutzt bzw. abgerufen werden. Oft wird ihnen jedoch kaum Aufmerksamkeit geschenkt und die Lernumgebung wird als anregungsarm empfunden. Schulen und Hochschulen basieren in der Regel nicht auf selbstgesteuertem Lernen.[11] Darum hat das SUI die digitale Lernumgebung in einen Erlebnisraum verwandelt.
Lernen findet jedoch auch außerhalb von Institutionen statt. Und hier entwickelt die Pädagogik – ganz im Sinne der Netzoptimisten – den Ansatz der digitalen Lernwelten als Teil der Lebens- und Alltagswelt. Soziales Handeln mit Medien wird aus der subjektiven Bedeutung für das Individuum heraus erfasst. Hier geht es um die Handlungs- und Deutungskompetenz des Individuums, um dessen Selbstorganisation und die Entwicklung von Selbststeuerungskompetenz. Vom Alltagswissen ausgehend unterstreichen diese Lern- und Bildungsprozesse die Deutungs- und Interpretationsleistungen der Menschen. Dem Modell digitaler Lernwelten außerhalb von Institutionen liegt ein Bildungsverständnis zugrunde, welches Bildung nicht als Eigenschaft von Menschen begreift, sondern Bildung als die Charakteristik der Beziehung von Menschen zu ihrer Umwelt ansieht. Man spricht von E-Learing 2.0, dem man fünf Eigenschaften zuweist:[12]
– Lernen findet immer und überall und in vielen unterschiedlichen Kontexten statt, nicht nur im Klassenraum.
– Lernenden fällt die Rolle der Organisierenden zu.
– Lernen findet ein Leben lang statt, ist multiepisodisch und nicht (nur) an Bildungsinstitutionen gebunden.
– Lernen findet in Lerngemeinschaften statt: Lernende treten Communities bei, sowohl formellen als auch informellen.
– Lernen findet in großem Umfang informell und non-formal statt: zu Hause, am Arbeitsplatz und in der Freizeit und ist nicht mehr lehrenden, und institutionenzentriert.
Besonders umstritten sind die Sozialisationseffekte von Computerspielen. Den vielzähligen Bedenken stehen Serious Games als Chance gegenüber. Durch den Einsatz von Games werden Kompetenzen gefördert und Spiele können gezielt für die Vermittlung von Wissen, Kompetenzen und Einstellungen eingesetzt werden. Ein Spiel dient zunächst der Unterhaltung und Entspannung und ist ansonsten zweckfrei. Eine Instrumentalisierung des Spiels für pädagogische Zwecke stellt diesen Charakter in Frage. Macht man es trotzdem, so bieten sich drei Konzepte an:[13]
– Motivations-Konzept: Spiel kann als Motivationshilfe genutzt werden, um erzieherische Inhalte und Informationen zu vermitteln. Es soll also als Türöffner fungieren, um auf pädagogisch relevante Inhalte aufmerksam zu machen, das Interesse an diesen Inhalten zu wecken und schließlich um die Inhalte auch zu transportieren.
– Belohnungs-Konzept: Spiel kann als (überraschende oder auch angekündigte) Belohung und Verstärkung für die vorherige (erfolgreiche) Bearbeitung von Lernaufgaben eingesetzt werden.
– Integrations-Konzept (oder Blending-Konzept): Im Unterschied zu den anderen beiden Ansätzen handelt es sich hier nicht um ein additives Konzept, sondern um den Versuch, die als pädagogisch relevant erachteten Inhalte zu einem essentiellen Teil des Spiels zu machen.
Insgesamt kann abschließend gesagt werden, dass das Konzept der digitalen Lernwelten kulturoptimistisch ist. Dem Ansatz liegt ein Netzwerkparadigma zugrunde, dessen Offenheit Chancen und Potenziale beinhaltet.
4. Digitale Demenz
Der These von den Potenzialen des Internet, von der Lernerleichterung und den neuen Möglichkeiten zur Erkenntnis der Welt, steht die These vom Verfall der Kognition gegenüber. In einem zweiten Schritt wird der Verlust von Aufmerksamkeit beklagt (ein besonderes Anliegen von Pädagogen, das für sie die Voraussetzung für Wissensvermittlung ist), in einem dritten Schritt als der Niedergang gewisser Kulturformen selbst gesehen.
Der bekannte Psychater Manfred Spitzer legt dar, wie Computer und Internet unser Denken und auch unser materielles Hirn negativ verändern, weil eingespeiste Telefonnummer, der eingebaute Rechner, das Navy, Google und viele andere tools uns des Denkens entwöhnen. Er sieht in den neuen Medien ein Suchtpotenzial vor allem bei Heranwachsenden und sperrt sich gegen das Ansinnen, sie möglichst früh an sie heranzuführen. Pädagogisch und lernpsychologisch erkennt er nur Nachteile.
„Computer verarbeiten Informationen, lernende Menschen auch. Daraus wird fälschlicherweise abgeleitet, dass Computer ideale Lernwerkzeuge sind. Gerade weil jedoch Computer uns geistige Arbeit abnehmen, taugen die (…) angepriesenen Laptops und Smartboards für Schule und Unterricht nicht zum besseren Lernen. Zahlreiche Studien belegen dies. Lernen setzt eigenständige Geistesarbeit voraus: Je mehr und vor allem je tiefer man einen Sachverhalt geistig bearbeitet, desto besser wir er erlernt. Es gibt keinen hinreichenden Nachweis für die Behauptung, die moderne Informationstechnik würde das Lernen in der Schule verbessern. Sie führt zu oberflächlicherem Denken, sie lenkt ab und hat zudem unerwünschte Nebenwirkungen.“[14]
Ähnlich argumentiert Andeas Neider aus Sicht der Anthroposophie (ein natürlicher Feind der neuen Medien). Auch er stellt fest, dass an die Stelle eigener gedanklicher Tätigkeit das Internet in Form von Google und Wikipedia tritt.[15] Die Ansicht, dass Lernen nicht gleichzusetzen ist mit dem Nachschlagen in einem Lexikon ist das Gegenmodell zur These „Wissen bedeutet zu wissen, wo etwas steht.“ Die Frage, was Lernen bedeutet und ob eine Generation von Legasthenikern heranwächst, die aber qua ihrer Medienkompetenz in der modernen Gesellschaft gut überlebt, kann erst mit großem Abstand beantwortet werden. Diese Negativhaltung widerspricht im Grunde gelebter Pädagogik – das Experimentieren ist doch der Normalfall – Einführung und Abschaffung der Mengenlehre, von Schultypen, der Geschlechtertrennung, des Abiturs mit zwölf Jahren, des computerbasierten Unterrichts.
Gegenwärtig schon sichtbar ist das Problem des Aufmerksamkeitsmangels. Es scheint den Schulpädagogen besonders auf den Nägeln zu brennen. In der Werbewirtschaft spielt das Schlagwort von der Ökonomie der Aufmerksamkeit eine gewisse Rolle, weil es ihr Ziel ist, die Aufmerksamkeit zu erregen. Der Brockhaus definiert Aufmerksamkeit als die „selektive Ausrichtung des Wahrnehmens, Denkens und Handelns auf bestimmte gegenwärtige oder erwartbare Erlebnisinhalte bei gesteigerter Wachheit und Aufnahmebereitschaft (…) Aufmerksamkeit gilt als Voraussetzung oder als Stützfunktion der Intelligenz. Steigerung der Aufmerksamkeit ist die Konzentration.“
Reizüberflutung, Onlinesucht, Oberflächlichkeit werden mit dem Computer und dem Internet in Verbindung gebracht und der Aufmerksamkeit gegenüber gestellt. Für den Schulalltag stellen vor allem die mobilen Medien eine Herausforderung dar und bringen entsprechende Ratgeber hervor.[16] Der Besitz und die intensive Nutzung von Computer und Mobiltelefon sowie Internetnutzung und Online-Spiele gehören zum selbstverständlichen Standard der Heranwachsenden. Die Jugendlichen eignen sich die entsprechenden Fähigkeiten in der Regel außerhalb der Schule an, und so entstehen von vorneherein zwei Welten: die eine Welt jedenfalls sind die überforderten Lehrerinnen und Lehrer. So gibt es also Schulen mit Handy-Verbot (theoretisch) und solche mit iPhone-Pilotprojekten. Hier und in der Publizistik bildet sich erneut eine Zweiteilung von Netzoptimisten und Netzpessimisten ab. Nur ein deutlich vorgetragener Gegensatz löst das gewünschte mediale Echo aus. Für Netzneutralisten ist wenig Raum.
Man kann die neuen Medien (Internet und Smartphone) auch als Negation der Aufmerksamkeit diskutieren, nämlich als (legitime) Instrumente der Zerstreuung.[17] In Zeiten des Medienumbruchs werden Aufmerksamkeit und Zerstreuung als Gegensätze wahrgenommen: Das erste kommt der Information, der Arbeit, der Schule zu, das zweite der Unterhaltung und der Freizeit. Mobile Medien verschieben dieses Kräfteverhältnis – die Zerstreuung (Ablenkung) kommt im Unterricht an.
Warum kann die jüngere Generation nicht vom Smartphone lassen, sitzt mit diesem in der Straßenbahn, nimmt es mit auf die Toilette, ja macht es zu einem Teil des Körpers? Die Autoren des Buches „Smartphone geht vor“ erkennen eine in der Veränderung der Hirnstruktur gründende Abhängigkeit. Gegen diese Abhängigkeit laufen verschiedene Autorinnen und Autoren Sturm. Eine von ihnen ist Paula Bleckmann, die für Medienmündigkeit kämpft, was nicht gleich Medienkompetenz ist.
„Medienmündig werden bedeutet zuallererst, nicht die Kontrolle über unsere kostbare Lebenszeit verlieren. Medienmündig sein heißt, souverän über die eigene Zeit verfügen, sich Zeitsouveränität zu bewahren. Unter Zeitsouveränität verstehe ich die freie Entscheidung, wie viel Zeit wir überhaupt mit Medien verbringen und damit anderen Tätigkeiten entziehen möchten.“[18]
Dem „Plastikbegriff Medienkompetenz“ fehlt nach Bleckmann erstens „die Dimension der Reifung, also des Zeitlassens und Raumgebens im Verlauf der Ausbildung einer Persönlichkeit. Zweitens fehlt die Dimension der Selbstbestimmtheit, der Zeitsouveränität, der Verhinderung von Abhängigkeit.“[19]
„Medien schaden“, so ist kurz gefasst Bleckmanns Credo. Es ist die Sehnsucht nach der wirklichen Wirklichkeit, die nicht vermittelt ist, sondern sich als persönliche Beziehung vollzieht. Etwas Unfassbare, Unheimliches hat sich zwischen die Menschen geschoben.
5. Digitalisierung und Kultur – Die Frage des Alters
Die Auswirkungen der Digitalisierung haben als besonders interessanten Aspekt denjenigen der kulturellen und habituellen Prägung, d. h. die Frage nach Verhaltensgewohnheiten und ihrer Veränderbarkeit im Alter. Gibt es für eine Generation ein charakteristisches Verhalten? Die Mediensoziologie kennt den Begriff der Mediensozialisation, und häufig wird unterstellt, dass mit zunehmendem Alter die Fähigkeit zum Umgang mit neuen Kommunikationstechnologien abnimmt. Beim sog. Generationen-Ansatz wird davon ausgegangen, dass eine kulturell und von gemeinsamen Erlebnissen geprägte Generation sich auch in ihrem Mediengebrauch ähnelt. Durch die gesamte Debatte um die digitalen Medien zieht sich die Erkenntnis, dass die Zukunft der Jugend gehört. Sie wächst mit diesen Medien in natürlicher Weise auf, während ältere Generationen von der Industrie als Zielgruppen schon lange verloren gegeben sind.[20] Besonders plakativ wird dies von Belwe und Schutz dargestellt:[21]
Abbildung 3: Generationen und Medienprägung
Name | Abkürzung | Geburtsjahr | Geprägt durch Medium… |
Silent Generation | -/- | 1925 – 1945 | Papier und Bleistift |
Baby Boomer | -/- | 1945 – 1965 | Schreibmaschine |
Generation X | Gen X | 1965 – 1980 | Frühe Computer |
Generation Y | Gen Y | 1980 – 1995 | Handy |
Generation Z | Gen Z | 1995 – 2010 | Smartphone |
Im Rahmen eines internationalen Projekts zur Mediennutzung habe ich einen Beitrag zur Digitalisierung und ihrer Bedeutung im demografischen Wandel verfasst, welcher die hier so grob dargestellten Phänomene diskutiert.[22] Auf den ersten Blick spricht vieles dafür, den Zusammenhang von Generation und Medienkompetenz und -nutzung zu bejahen. Ein zweiter Blick zeigt allerdings, dass schon der Generationen-Begriff nicht eindeutig ist. Im Zusammenhang mit Medien wird man nicht Familien-Generationen meinen; aber stets ist eine Generation eine Form der kollektiven Verständigung, und ihre Trägergruppen imaginieren alterssspezifische Gemeinsamkeiten. Generationenangehöriger ist man nicht unbedingt durch Geburt, sondern eher durch Bekenntnis und Zuordnung.[23] Generationengeschichte muss darum als Kommunikationsgeschichte erzählt werden, und hier bleibt es zukünftiger Forschung überlassen, nach einer Twitter- oder Facebook-Generation zu fragen. Auch die Generation als Gedächtniskategorie ist nur schwer mit Mediennutzung zusammenzuführen. Die Verknüpfung von Medien und Generation kann auch die Konstruktion einer bestimmten Benennung durch eben die Medien bedeuten, wenn wir zum Beispiel ständig den Modebegriff Generation Praktikum oder (früher) Generation Golf hören. Die Bezeichnungen Gen X, Gen Y und Gen Z von Belwe und Schutz entsprechen derartigen Etikettierungen genau. Auch entsprechen Bilder von konflikthaften Generationenbeziehungen und -verhältnissen der medialen Logik.[24]
Welche Medienpraxiskulturen, d. h. welche habitualisierte Formen des kollektiven Handelns mit Medientechnologien haben sich in den unterschiedlichen Altersgruppen herausgebildet? Es scheint Konsens in der Forschung zu sein, dass Handlungsmuster, die vor dem Eintritt in das Rentenalter entwickelt worden sind, auch im Alter nicht abgelegt werden und alte Gewohnheiten beibehalten und zeitlich weiter ausgeweitet werden. Studien (die allerdings auch schon 5 – 6 Jahre alt sind) belegen eine digitale Kluft zwischen jungen und alten Alterskohorten, mit allerdings schon abnehmender Tendenz.[25] Für die Gruppen der Erwachsenen und Senioren hat anders als bei den jüngeren der zentrale Aspekt des spielerischen Umgangs mit Kommunikationstechnologie keinen Stellenwert. Das Handeln der Personen in der Mitte des Erwerbslebens mit diesen Artefakten ist sowohl im privaten Umfeld als auch im Beruf von zweckrationalen Motiven durchdrungen und wird vor allem in einem Modus der Ernsthaftigkeit ausgeführt.[26] Für die älteren Nutzergruppen formuliert dies Schäffer so:
„Ohne das Handeln der ‚Generation’ der 60- 70-Jährigen mit digitalisierter Technik übergeneralisieren zu wollen, lässt sich festhalten, dass die in die neuen Medientechnologien eingeschriebenen habituellen Handlungslogiken mit ihrem impliziten Anforderungspotenzial älteren Personenkreisen tendenziell fremd sind, weil sie nicht spielerisch im Jugendalter erworben worden sind und die distanzschaffenden Funktionen der Technologie mit großer Skepsis betrachtet werden. Aber gerade der spielerische Aspekt bietet auch Anschlussmöglichkeiten, da viele Senioren von den zweckrationalen Zwängen des Berufs- oder Familienalltags entbunden sind und sich (wieder) spielerisch mit etwas beschäftigen könn(t)en.“[27]
Neben dem Aspekt des spielerischen Lernens tritt noch eine weitere Beobachtung, die Senioren von Jugendlichen unterscheidet, nämlich das Wesen des sozialen Erlebens. Was die jungen Leute im Bus und in der Bahn verblüffend schnell in ihre Handys tippen, ist die Verfestigung eines jugendlichen Horizonts durch die Intensivierung von Erlebnissen aus einer Welt, die allein von Gleichaltrigen und Menschen identischer Lage bevölkert wird. „Es dominieren Trägheit, Sorglosigkeit und ziellose Unternehmungen; sie ‚hängen’ jetzt mit ihrem Handy genauso ‚herum’, wie sie in früheren Zeiten an den Straßenecken ‚herumhingen’.“[28] Aus der Sicht der Erwachsenen handelt es sich um eine gigantische Verschwendung von Zeit, eine Beobachtung, die allerdings auch auf die meisten Fernsehprogramme zutrifft.
„Die mit der Benutzung von Kommunikationsgeräten verbundene Erregung, das Gefühl des ‚Cool Seins’ und der Wunsch, aus seiner sozialen Gruppe nicht ausgeschlossen zu sein, dominieren weiterhin die Reaktionen der Menschen auf ihr Handy.“[29] Die Soziologie hat für dieses Verhalten eine Erklärung parat und spricht von einem Inszenierungsverhalten – die ganze Welt ist ein Theater. Wir alle stehen in einem ständigen Wechselspiel aus Selbst- und Fremdbeobachtung sowie aus Selbst- und Fremdachtung oder –Missachtung. Technische Geräte wie das Handy oder das iPhone verleihen dieser Interaktion eine zusätzliche Dimension. Sie sind nicht nur Symbole, sondern Requisiten in einer Art Schauspiel. Eine solche Form der sozialen Vergewisserung ist Seniorinnen und Senioren in der Regel fremd, man hat es jedenfalls noch nie gesehen.
6. Der Streit um das Hirn
Der digitale Wandel zeichnet sich dadurch aus, dass er begleitet wird von einer Konjunktur der Hirnforschung. Die gesellschaftliche Reflexion der Auswirkungen neuer Medienformen wird mit einer Wissenschaft verbunden, welche diese Auswirkungen direkt messen kann. Das führt zur neuen Situation, dass physische Veränderungen, die sich durch einen veränderten Umgang mit Informationen ergeben, scheinbar sichtbar werden. Diese Entwicklung der Wissenschaft entspricht auch den Forschungen von Heiner Mühlmann, der historische Thesen (geisteswissenschaftliche Fragestellungen) mit neurobiologischen Erkenntnissen verbindet.
Nunmehr scheint es möglich zu sein, folgende Fragen empirisch-naturwissenschaftlich zu beantworten:[30]
– Wenn wir online gehen, betreten wird dann eine Welt, die flüchtiges Lernen, überhastetes und oft abgelenktes Denken als auch oberflächliches Halbwissen fördert?
– Werden gerade junge Menschen durch die digitalen Medien passiv, unfähig zur Empathie, intellektuell seicht und oberflächlich, unkritisch und desensibilisiert, depressiv und aufmerksamkeitsgestört?
– Beschädigt oder beschleunigt Videospielen unser Gehirn?
– Ist der unkontrollierte, obsessive Gebrauch digitaler Technologien verantwortlich für die offensichtlichen Veränderungen im Lernverhalten der jüngeren Generation?
– Macht das Internet uns süchtig und Google uns dümmer oder smarter?
– Wie beeinflussen die digitalen Medien den Schul- und Studienerfolg?
Bücher über Medientheorie zeigen seit einiger Zeit gerne Abbildungen des menschlichen Hirns. Sie sollen belegen, wie und wo sich dieses Organ unter dem Einfluss der Medien verändert. Auch der Psychiater und Neurowissenschaftler Manfred Spitzer belegt seine kulturpessimistischen Thesen mit beobachtbaren Veränderungen des Hirns. Taxifahrer trainieren die Bereiche im Hirn, die für die Orientierung wichtig sind. Wo diese sowie andere Fähigkeiten verloren gehen, spricht man von Demenz. Spitzer entwickelt nun eine ganze Reihe von Beispielen des geistigen Abstiegs, die im Zusammenhang mit der Nutzung von Medien stehen und die alle durch die Hirnforschung belegt werden können. Wenn Jugendliche sich sozial fast ausschließlich im Netz bewegen, entwickeln sich die für das Sozialverhalten zuständigen Hirnareale nicht normal.[31]
Allerdings gibt es Einwände: Die Effekte eines veränderten Medienkonsums lassen sich kaum isolieren und auf ihre neurologischen Konsequenzen untersuchen. Man kann davon ausgehen, dass in der Tat viele Auswirkungen derartig beobachtbar sind, jedoch nicht mit den heutigen Möglichkeiten.
„Will man ein vorsichtiges Fazit zu den Auswirkungen der Neuen Medien auf das menschliche Hirn ziehen, so kann man zunächst festhalten, dass sich das Gehirn in seiner Entwicklung an die Umwelt und damit auch an die verwendeten Medien anpasst. Oberflächliche und repetitive Medienaktivitäten haben generell negative Auswirkungen auf die Entwicklung des Gehirns, was sich direkt nicht auf Social Media übertragen lässt, weil im Gegensatz zum Fernsehen ständig eigene Aktivitäten zwischengeschaltet sind. Computer erledigen heute eine Vielzahl von Aufgaben, für die früher hohe Konzentration erforderlich war (z. B. das Addieren von Zahlenreihen, Rechtschreibprüfung). Allerdings scheint die fehlende Übung zu verhindern, dass bestimmte Gehirnareale ausgebildet werden, die für das Lösen komplexer Probleme verwendet werden. Das gilt hingegen nicht, wenn digitale Medien eingesetzt werden, um vielschichtige Aufgaben zu bewältigen.“[32]
Es handelt sich um ein typisch wissenschaftstheoretisches Problem. Eine naturwissenschaftliche Erkenntnis wird durch die Geisteswissenschaften interpretiert oder methodisch delegitimiert. Wäre dies nicht so, würden die Naturwissenschaftler qua besserer Einsicht die Welt regieren. Ich habe dies am Beispiel des Klimawandels ausführlich diskutiert. Natur- und Geisteswissenschaft stehen sich in einem wechselseitig kritischen Verhältnis gegenüber. Beide sind Teile einer Gesamtkultur, aber sie vermitteln sich auf unterschiedliche Art und Weise in die Gesellschaft.[33] Es bleibt an dieser Stelle nur ein Plädoyer für einen gewissen Netzneutralismus.
7. Digitalisierung, Netze und das Selbst
Die Digitalisierung hat wesentliche Folgen für die Gesellschaftsanalyse, die Philosophie und die Psychologie. Der Digitalisierung entspricht auf der Ebene der Erkenntnis der Welt das Paradigma des Netzes.
Die Rede von Netzen hat auch mit der geistigen Entwicklung der Zeit zu tun. Die anhaltende Konjunktur des Begriffes hat als Hintergrund, dass in unserer modernen Gesellschaft immer mehr Gewissheiten verloren gehen. Der Glaube an Gott verliert an Bedeutung; die ideologischen Blöcke existieren nicht mehr; jede Gesellschaftstheorie ist so gut wie jede andere auch; die Parteien unterscheiden sich nicht mehr; Kriege beginnen nicht mehr mit einer Kriegserklärung oder einem Überfall und enden mit einem Sieg; Soldaten sind keine Kämpfer mehr, sondern sollen „Sozialarbeiter-Polizisten“ sein; die Geschlechterrollen lösen sich auf, und die sexuellen Orientierungen sind vielfältig. Die Soziologen erkennen die Individualisierung als Megatrend der Gesellschaft; die funktionale Differenzierung nimmt zu. Alles löst sich irgendwie auf – die Dinge können so sein, aber auch anders. Ich bin hineingeworfen in diese Welt und muss sehen, wie ich in ihr zurechtkomme; stabilisierende Gerüste der Erkenntnis oder der Hilfe zum Handeln gibt es immer weniger. Die Theoretiker nennen dies Kontingenz; eine Situation ist kontingent, wenn man sie nicht recht greifen kann, und solche Situationen scheint es immer häufiger zu geben. Der Begriff des Netzes, das ist mein Argument, scheint das gedankliche Gegenmodell zu Gewissheiten, Blöcken und Zusammenhalt zu sein.
Digitale Lernwelten, wie oben beschrieben, stehen dem Netzwerk-Paradigma nahe. Wer hingegen kulturpessimistische Einwände hat, denkt sozusagen analog. In einer kompakten Studie habe ich die Metapher des Netzes in einen Zusammenhang mit Kultur gestellt. Netze werden als Formen der Vergesellschaftung beschrieben, welche (geschlossene, feste, Schutz bietende) soziale Gemeinschaften ablösen. Netzwerkarbeit ist daher eine überlebenswichtige Kulturtechnik. Dem Umstand, dass unsere Welt zunehmend kontingent wird, kann vor allem durch die Besinnung auf die eigenen Kräfte begegnet werden. Das Netz ist eine Metapher für ein Menschenbild, welches Auflösung und Halt gleichermaßen umschreibt. Wo eine Struktur kein Zentrum hat – und ein Netz hat ein Zentrum – kann nur ich selbst dieses Zentrum sein.[34]
In der Begründung des Studienganges Media Innovation Management hat dieser Ansatz wiederholt einen Niederschlag gefunden. Es wurden zwei Thesen vertreten:
a) Im Zuge der Globalisierung des Kapitalismus werden Wir-Gesellschaften zunehmend zu Ich-Gesellschaften. Der Neoliberalismus (insofern dieser Begriff auf China anwendbar ist) wird auch China erreichen.
b) Es ist sinnvoll und zielführend, wenn sich chinesische Führungskader auch mit der europäischen Ich-Gesellschaft befassen.
In Europa und den USA gewinnt ein Menschenbild an Bedeutung, dass Selbstverantwortung und Selbstführung in den Mittelpunkt des Lebens stellt. Weil unsere Welt zunehmend kontingent wird, Gewissheiten verloren gehen und soziale Rollen sich auflösen, kann nur das Selbst Halt bieten (Müller 2013: 29 f.).
Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Ich, dem Selbst und dem Management von Medien. Er besteht erstens im Begriff des Selbstmarketings im Zusammenhang mit der Kreativwirtschaft. Zweitens finden Probleme der persönlichen Identität Niederschlag auch im Internet als Personal Branding und komplexe Fragestellungen um eine virtuelle Identität. Drittens können kunsttheoretische Aspekte einer Rezeptionsästhetik berührt sein. Viertens korrespondiert in Europa der Begriff des Selbst im herrschenden Diskurs mit dem Begriff des Netzes, welches Gemeinschaften ersetzt. Das Netz aber ist ein kommunikatives und mediales Phänomen. Fünftens schließlich geht es ganz profan und jenseits aller soziologischen, philosophischen und medienwissenschaftlichen Überlegungen um Managementqualifikationen und Führung mit und gegenüber einer europäischen Klientel.
8. Möglichkeiten und Grenzen des Vergleichs von Kulturen
Kulturen sind Lebenswelten, die sich Menschen durch ihr Handeln geschaffen haben und ständig neu schaffen. Der Brockhaus definiert Kultur (mit einleitenden Einschränkungen) wie folgt:
„In einem engeren, auch traditionell so vorgegebenen Sinn bezeichnet Kultur die Handlungsbereiche, in denen der Mensch auf Dauer angelegte, einen individuellen oder kollektiven Sinnzusammenhang gestaltende oder repräsentierenden Produkte, Produktionsformen, Verhaltensweisen und Leitvorstellungen hervorzubringen vermag, die dann im Sinne einer Wertordnung oder eines Formenbestandes das weitere Handeln steuern und auch strukturieren können.“
Der kultursoziologische Blick interessiert sich dafür, nicht was sondern wie Menschen arbeiten, wohnen, essen, lieben und feiern. Demzufolge kann Kultur aufgefasst werden als der von Menschen erzeugte Gesamtkomplex von Vorstellungen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen, der sich in Symbolsystemen materialisiert.[35]Die Beschreibung einer fremden Kultur hat in der Regel eine Orientierungsfunktion in Abgrenzung zur eigenen Kultur und ist daher notwendigerweise subjektiv und vom eigenen Herkommen geprägt. Dennoch existieren Versuche, zu einer objektiven Sicht zu kommen. Besonders folgenreich und akzeptiert sind die von Geert Hofstede entwickelten Kulturdimensionen. Es sind dies:
– Machtdistanz
– Individualismus versus Kollektivismus
– Maskulinität versus Feminität
– Unsicherheitsvermeidung
– Kurzfristige versus langfristige Orientierung.
Pepels hat diese Kulturdimensionen in einem Handbuch zum Marketing sehr verständlich zusammengefasst.[36] So können in bestimmten Gesellschaften Machtunterschiede eine größere Rolle spielen als in anderen. Wo die sog. Machtdistanz groß ist, erwarten und wünschen die Menschen Ungleichheit, was sich in einer autoritären Kindererziehung ausdrückt, in Hierarchien und Privilegien. Statussymbole sind populär, und der ideale Vorgesetzte ist der wohlwollende Autokrat oder gütige Vater. Ist die Machtdistanz gering, werden Privilegien missbilligt, es besteht eine Tendenz zur Dezentralisation, die Mitarbeiter wollen mit entscheiden, der ideale Vorgesetzte ist der einfallsreiche Demokrat.
Gesellschaften können auch auf einem Kontinuum zwischen Individualismus und Kollektivismus charakterisiert werden. Starker Kollektivismus meint Gesellschaften, in denen der Mensch von Geburt an in starke, geschlossene Wir-Gruppen integriert ist, die ihn ein Leben lang schützen und dafür weit reichende Loyalität von ihm verlangen. Wo Kinder lernen, in Ich-Begriffen zu denken, ist auch die Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ein Vertrag, der sich auf gegenseitiger Nutzung gründet. An dieser Stelle ist sicher auch von Neoliberalismus und Selbstmarketing zu reden.
Sehr interessant, aber heute bei uns als nicht mehr politisch korrekt bewertet, wenngleich in anderen Kulturen sicher immer noch Realität, ist eine Unterscheidung zwischen Maskulinität und Feminität zur Kennzeichnung von kulturellen Unterschieden. Maskulinität bedeutet demnach Konkurrenz, Erfolg, Fortkommen, Sympathie für den Starken, Selbstbewusstsein, Geld und Besitz. Feminität ist demnach das sich Kümmern um Mitmenschen und das Bewahren der Werte, Sympathie für den Schwachen, Arbeiten um zu leben, Vorgesetzte streben Konsens an.
Gesellschaften können sich kulturell auch dahingehend unterscheiden, ob sie sich durch ungewisse oder unbekannte Situationen bedroht fühlen und strukturierte Zustände anstreben. Es stehen sich gegenüber: Wohlbefinden durch Müßiggang, Zeit ist relativ, Regelungen sind auf das Notwendigste reduziert, geringer Stress, Emotionen dürfen gezeigt werden. Dagegen Zeit ist Geld, ein emotionales Bedürfnis nach Regeln, harte Arbeit, Formalisierung von Abläufen, Stress vermittelt ein Gefühl von Angst.
Wencke Gülow hat die Ergebnisse der verschiedenen Studien von Hofstede in einer Tabelle zusammengefasst:[37]
Tabelle: Vergleich der Länder China und Deutschland anhand der Kulturdimensionen[38]
Dimension | Machtdistanz | Individualismus | Maskulinität | Unsicherheitsvermeidung | Langzeitorientierung | |
Land / Region | ||||||
Deutschland | 35 | 67 | 66 | 65 | 31 | |
China | 80 | 20 | 66 | 30 | 118 | |
Hongkong | 68 | 25 | 57 | 29 | 96 | |
Singapur | 74 | 20 | 48 | 8 | 48 |
Neben Hofstede hat Fons Trompenaars verschiedene Bücher zum interkulturellen Management verfasst. Seine Studien beruhen ähnlich wie diejenigen von Hofstede auf der Befragung von mehreren tausend Managern. Seine Unterscheidung zwischen Affektivität und Neutralität hat eine gewisse Bekanntheit erreicht. Die affektive und neutrale Kulturprägung zeigt auf, inwieweit Mitglieder einer Gesellschaft Gefühle offen zeigen bzw. kontrollieren. In dieser Hinsicht bestehen demnach große Diskrepanzen zwischen Deutschland und China.
Tabelle: Unterschiede zwischen affektiven und neutralen Kulturen
Affektive Kulturen | Neutrale Kulturen |
Gefühle und Gedanken werden durch verbale und nonverbale Kommunikation offenbart. | Gedanken und Gefühle sollen nicht nach außen sichtbar werden. |
Anspannungen werden geäußert und wirken entkrampfend. | Anspannungen werden allenfalls in der Mimik oder Körperhaltung sichtbar. |
Emotionen werden unbeschwert, überschwänglich und temperamentvoll ausgetauscht. | Emotionen werden zurückgehalten, können aber plötzlich hervorbrechen. |
Temperamentvolles, vitales und ausdrucksvolles Verhalten erfährt Bewunderung. | Ein kühles Auftreten und Selbstbeherrschung werden bewundert. |
Es existiert ein hoher Grad an Körperkontakt, Gestik und Mimik | Körperkontakt, starkes Gestikulieren oder auffallende Mimik sind tabu und werden als Mangel an Gefühlskontrolle interpertiert. |
Gespräche verlaufen in fließender und dramatischer Redeweise. | Der Tonfall in Gesprächen ist eher monoton. |
(Gülow 2014: 54)
Die hier beschriebenen Einordnungen haben eine Orientierungsfunktion, aber sie bleiben intellektuell jenseits eines empathischen Verstehens.
9. Der chinesische Geist
Nur die Jahrtausende alte chinesische Kultur weist eine ähnliche Kontinuität auf wie das Christentum, oder vielmehr: Das, was die österreichischen Autoren eines Fachbuches den chinesischen Geist nennen, prägt das Handeln der politischen Elite bis heute. Die von Konfuzius (*551 v. Chr.) begründete Weltanschauung und Lebenshaltung der Harmonie (vermittelt durch Riten und Sitten) wurde vor wenigen Jahren geradezu reaktiviert, als Skandale an der Parteispitze, soziale Spannungen und Ungleichheiten, Umweltzerstörung und „moralischer Verfall“ zu Instabilität zu führen drohten. Die Strategie der politischen Instrumentalisierung des Konfuzianismus für die Zwecke der kommunistischen Einheitspartei ist jedoch älter, ja man kann den Harmonie-Gendanken als Markenzeichen der chinesischen Kultur betrachten.
Auf der Suche nach Legitimation im Spannungsfeld zwischen Kultur und Partei gibt es in China offensichtlich eine politische Strömung des Neu-Konfuzianismus:
„Das konfuzianische Wertesystem stützt die jeweils Herrschenden ebenso, wie es sie ständig, ja tagesabhängig gefährdet. Es stützt sie, weil es Gehorsam, Respekt für Hierarchie, Stabilität und ‚Harmonie’ in den Mittelpunkt der moralischen Substanz des Staatswesens stellt; und es gefährdet sie jeden Augenblick, weil es ein Pflichtennetz propagiert, das alle Seiten zu Pflichterfüllung, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit auf der Basis von Wechselseitigkeit einbezieht – niemanden ausgenommen, auch die Regierung nicht. Wer in diesem Netz geordneter Beziehungen, das der Konfuzianismus in seinem Kern als Spiegel universaler Harmonie gesellschaftlich etabliert, versagt, der verwirkt seine Funktion, einschließlich Stellung und soziale Autorität.“ [39]
Die Kombination von Hierarchie und Gehorsam mit Vertrauen zum Zweck der Harmonie als ständige Quelle der Legitimation erzeugt eine im Vergleich zum Westen andere politische Grundausrichtung sowie andere sozio-politische Grundhaltungen und Grundgesten. Die chinesischen Begriffe von Person, Mensch und Individuum sind sehr verschieden vom Westen und damit auch ihre politischen Konnotationen. Individualismus ist in China kein Wert oder gar ein Ziel in sich selbst. Er ist vielmehr nur die natürliche Verfassung des menschlichen Bewusstseins. Persönlichkeit definiert sich nicht aus – und in – sich selbst, sondern eher als Beziehung zwischen dem Teil und dem Ganzen.[40] Hier liegt ein Unterschied zu den modernen westlichen Demokratien die aufgrund ihres individualistischen Weltbildes ein Selbstkonzept entwickelt haben, welches für das zunehmend stärker werdende neoliberale Denken funktional ist.
Ein wirkliches Verständnis Chinas ist schwierig. „Chinesisches Denken, einschließlich das politisch-soziale Denken, ist oft, weit mehr als in westlicher Weise sprachzentrierten Individuen zumutbar, im vor oder nach-sprachlichen Bereich angesiedelt, und daher stärker vom begleitenden Habitus abhängig.“[41] – Der Studiengang Media Innovation Management berücksichtigt diesen Umstand in Modul 10 Interkulturelle Kommunikation ausführlich.
So gibt es darstellbare Kulturdimensionen welche das Verständnis unterschiedlicher Kulturen erleichtern, aber werden sich die unterschiedlichen Mentalitäten finden?
10. Medien in China
Auch von chinesischer Seite werden die (negativen) Einflüsse des Medienkonsums auf Kinder und Jugendliche durchaus gesehen und diskutiert. Die kulturpessimistischen Ansätze sind sehr ähnlich. In China nun hat sich in den letzten Jahrzehnten jedoch ein bestimmter Wandel vollzogen, nämlich von der Erziehung und der Propaganda weg und hin zur Kommerzialisierung vor allem des Fernsehens. Bin Zhao periodisiert die Entwicklung des Fernsehens in China mit Blick auf die Zielgruppe der Kinder wie folgt:
1958 – 1967: Anfangsphase der Erziehung;
1967 – 1972: Abschluss der Startphase während der Kulturrevolution;
1972 – 1976: Zweite Phase heftiger ideologischer Umerziehung;
1976 – 80er Jahre: Dritte Phase mit Festigung und Ausbau der intellektuellen und sozialen Erziehung.
Die letzte, gegenwärtig noch anhaltende Periode ist die der Kommerzialisierung und Unterhaltung. Sie fällt zusammen mit einem erhöhten Fernsehbesatz in chinesischen Familien und der Liberalisierung der Wirtschaft. Diese Kommerzialisierung der Unterhaltung, gemischt mit Erziehungselementen, wird auch die vorhersehbare Zukunft prägen.[42]
Sie begann in den 80er Jahren, als der amerikanische Sender CBS den Chinesen Content zur Verfügung stellte im Austausch gegen Sendezeit für Reklame, die man weiterverkaufte. 1986 hielten Mickey Mouse und Donald Duck Einzug in das chinesische Fernsehen, Kommerzialisierung und Werbung verbanden sich mit Fernsehformaten nach amerikanischem Vorbild.
Diese Entwicklung, welche man möglicherweise als eine Form der Modernisierung ansehen kann, korrespondiert mit einem weiteren Phänomen des sozialen Wandels, nämlich der Urbanisierung. Die wirtschaftliche Entwicklung vollzieht sich in China besonders in den Ballungszentren. In Peking hat sich die Bevölkerung zwischen 1980 und 2012 von ca. 9 Mio. auf mehr als 20 Mio. Menschen mehr als verdoppelt. Die Situation ist auch gekennzeichnet durch das Phänomen der Wanderarbeiter mit ihren spezifischen sozialen Problemen.[43]
Weil sich die wirtschaftliche Entwicklung Chinas also räumlich ungleich vollzieht, hat dies auch Folgen für die Mediennutzung. Die Tatsache, dass deutlich weniger als die Hälfte der Bevölkerung an das Internet angeschlossen ist, wird kontrastiert durch den Umstand, dass in den großen Metropolen andere Werte erreicht werden. Peking hat eine Internet-Penetration von 75,2 %, Shanghai von 70,7 %.
Die Quelle Austria Connect. China Digital gibt für den Oktober 2014 an, dass von den 1,3 Milliarden Chinesinnen und Chinesen 45 % Zugang zum Internet haben, und praktisch diese gesamte Gruppe soziale Medien nutzt. Es ist bemerkenswert, dass besonders hervorgehoben wird, dass 242 Mio. Internetnutzer Online-Käufe tätigen, und zwar mehrmals pro Woche.
Was Menschen wirklich im Internet machen, ist schwierig zu bestimmen. Die Chinesen hören Musik (76 %), suchen Informationen (80 %) oder lesen Nachrichten (73 %). Beinahe die Hälfte von ihnen nutzt die Medien zum Einkauf, und die Zahlen steigen. Von der chinesischen Regierung wird darum das Potenzial des chinesischen Marktes betont, welches durch das Internet erschlossen werden kann. Die wirtschaftliche Funktion der neuen Medien ist also deutlich, wie auch deutlich ist, dass die Nutzerzahlen für die sozialen Medien steigen. Und dieses wiederum ist ein Altersphänomen.
Die kapitalistische Modernisierung, die Kommerzialisierung der Medien und die Urbanisierung verbinden sich als Formen des gesellschaftlichen Wandels mit dem Umstand, dass die Digitalisierung vor allem die jungen Alterskohorten ergreift. Ist es überraschend, dass die untersuchten Problemstellungen zu praktisch hundert Prozent denen der westlichen Forschung und Debatten ähneln? Die Stichworte lauten hier wie dort Abhängigkeit, Sehnsucht nach Anerkennung, Narzissmus, Freizeit und Langeweile, schulische Leistungen und soziale Kompetenz. Für ihre Studie zum Gebrauch der Social Media bei Jugendlichen in China befragte Hanyun Huang mehrere hundert Schülerinnen und Schüler in verschiedenen Schulen in fünf Großstädten und führte anschließend qualitative Interviews mit Eltern und Lehrern.[44] Exakt wie ich selbst in meinen Veröffentlichungen zu Thema gliedert sie die Bewertungen in Optimistic Views, Pessimistic Views und Neutral Views. Sie selbst ist zweifellos der Fraktion der Netzpessimisten zuzurechnen und sieht massive Gefahren für die schulischen Leistungen und das Sozialverhalten. Darüber hinaus benennt sie ein spezifisches Problem:
Wenn sich die Kommunikation der Jugendlichen ausschließlich mit Gleichaltrigen im Netz vollzieht, so sind die Eltern von dieser Welt ausgeschlossen. Die Digitalisierung entfremdet die Eltern von ihren Kindern, sie verlieren die Kontrolle über den Nachwuchs. Für das chinesische Gesellschaftsmodell kann dies möglicherweise Folgen haben.
Egal ob man der Digitalisierung positiv, negativ oder neutral gegenüber steht, ist mit der Medialisation ein enormer Wirtschaftssektor verbunden. Wie einleitend angemerkt: Die Gesellschaftswissenschaft hat die Welt interpretiert, die Wirtschaft hat sie verändert. Der China Cultural and Creative Industrie Report 2013 beschreibt das Wachstum eines äußerst dynamischen Sektors. Wichtiger als die Zahlen selbst aber ist die dahinter stehende Strategie. Dem Versprechen, den Aufbau des Sektors mit Harmonie, Ethik, Moral und sozialen Werten zu verbinden und diese zu stützen, steht das Interesse gegenüber, China global wettbewerbsfähig zu machen und (so ausdrücklich) das nationale Selbstwertgefühl zu stärken. Soziale Gleichheit und Markteffizienz sollen ebenso wie Kultur und Wirtschaft in einem Gleichgewicht gehalten werden. Chinas Wirtschaft beruht politisch auf Fünfjahresplänen, und der Kultur- und Kreativwirtschaft wird im gegenwärtigen Fünfjahresplan eine besondere Bedeutung zugedacht.[45]
11. Diskussion
Es ist sehr schwierig, die chinesische Kultur in ein Verhältnis zur Digitalisierung zu setzen. Erstens wissen wir wenig über diese Kultur, zumindest in dem Sinne, dass wir ihr mit Empathie und Verständnis entgegen treten. Letztlich ist jeder Kulturvergleich bestimmt durch die in der Soziologie ausführlich diskutierte Dichotomie Wir und die Anderen. Die vorgestellten Denkmodelle und Kulturdimensionen können nur Annäherungen sein. China ist keine Demokratie in westlicher Auslegung, sondern eine autoritäre Regierungsform, die von kapitalistischen Strukturen durchdrungen ist. Wie kann man unter diesen Bedingungen eine Diskussion strukturieren?
Es bietet sich auch hier an, zwischen einer politologischen, einer publizistischen und einer soziologischen Sichtweise zu unterscheiden. Politologisch gesehen kann die Digitalisierung in China nicht als demokratisches Potenzial oder als Chance zur Partizipation betrachtet werden.
Die Kategorie der Öffentlichkeit (publizistische Sichtweise) hat ebenfalls eine andere Qualität. Es ist schwierig zu beurteilen, welche Öffentlichkeit die chinesische Regierung zulassen wird. Es scheint aber so zu sein, dass die Digitalisierung auch in China primär eine Flut profaner Inhalte produziert. Es ist ja auch ein Irrtum und nur ein Traum von input-orientierten europäischen Politologen, dass im Netz vornehmlich Politik gemacht wird. Die politologische Sichtweise produziert also Unterschiede, die soziologische Sichtweise (und in Teilen die publizistische) dagegen eine Reihe von Gemeinsamkeiten.
Es sind dies vor allem die offensichtlich weltweit existierende Kritik am Medienkonsum (letztlich auch eine Kritik an der Amerikanisierung der Medien), die Diskussion des medialen Verhaltens von Jugendlichen (auch ein weltweites Phänomen) mit den Aspekten Abhängigkeit, Narzissmus, schulische Leistungen und Sozialverhalten, sowie der Umstand, dass Digitalisierung als ein Phänomen der Modernisierung mit Urbanisierung zusammenhängt. Das Thema Mediensozialisation verbindet Kulturen mehr, als dass es sie trennt.
In einem Punkt ist aber möglicherweise ein Unterschied sichtbar. Westliche Gesellschaften sind in zunehmendem Maße kontingent, d. h. Strukturen (und Gewissheiten) lösen sich auf, zuvörderst der Wert der Familie. Theoretisch reagiert man auf diese Entwicklung, indem man das Netz als allumfassenden Begriff zum Verständnis der Gesellschaft aufwertet. Das Netz ist für eine offene und demokratische Gesellschaft funktional. Innerhalb des Netzes überlebt man am besten mit einem stabilen und lernfähigen Selbstkonzept. Das Selbst entspricht der neoliberalen Gesellschaft, hierarchische Familienverhältnisse tun dies nicht.
Es könnte für das auf Hierarchie und Harmonie aufgebaute Gesellschaftssystem Chinas möglicherweise eine Bedrohung sein, wenn durch die Digitalisierung die Eltern (und die Lehrer) den „Zugriff“ auf ihre Kinder verlieren. Auch ist der Konfuzianismus auf Riten und Gesten ausgerichtet; es muss nicht ohne Folgen sein, wenn der die Sprache begleitende Habitus bei der digitalen Kommunikation Schaden nehmen sollte. Das westliche Selbstkonzept passt nicht in dieses Bild. Das vom westlichen Denken geprägte Themenfeld Digitalisierung – Netz – Selbst ist hier nicht schlüssig.
Ein wichtiger Schauplatz der Stabilitätsbemühungen der Regierung ist seit Jahren das Internet, wo der von der chinesischen Führung propagierte Harmoniegedanke auch Beschränkungsmaßnahmen nach sich zieht. Der Begriff Harmonie hat daher auf chinesischen Internetplattformen eine eher negative Konnotation. Und so wird hier im komplexen Feld der Medien erneut ein Zusammenhang von soziologischer und politologischer Sichtweise offenbar.
Der Kapitalismus durchdringt auch die chinesische Gesellschaft, und das Internet wird von der Regierung als Medium zur Förderung der Wirtschaft gesehen. Es ist ein Hybridmedium mit einem sozialen und einem ökonomischen Potenzial, und die Folgen sind noch nicht recht absehbar.
Die Gesamtbetrachtung kann nur eine abwägende sein. Netzoptimismus, Netzpessimismus und Netzneutralismus sind die alle Kulturen übergreifenden Einschätzungen von letztlich nicht mit Bestimmtheit zu fassenden Entwicklungen. Die Kultur ist kein vom Individuum, der Gesellschaft und den Medien unabhängiges Element, sondern ist als Komplex zu diskutieren. Es gibt jedoch starke Anzeichen, dass die Rolle der Medien zunehmen wird. Sie werden die Gesellschaft sicher nicht völlig konstruieren, aber die Gewichte verschieben sich von Abbildung 1 zu Abbildung 2.
Für die Bedingungen westlicher Demokratien hat Melanie Huber eine kleine Aufstellung erarbeitet, wie die Zukunft aussehen wird. Medien enthalten das Potenzial für Freiheit, Wissen und wirtschaftliches Wachstum; aber sie beinhalten auch die Gefahr von Manipulation, Unterdrückung und Ausbeutung. Ich möchte in diesem Zusammenhang aber nicht unerwähnt lassen, dass auch in der analogen Welt manipuliert wurde. Ich empfinde es durchaus als einen Fortschritt, dass meine Kinder und Enkel nicht mehr auf die Auswahl an Informationen durch überwiegend öffentlich-rechtliche Redakteure angewiesen sind und auch der „embedded journalism“ nicht mehr die einzige Möglichkeit ist, das Verhalten von Kriegsbeteiligten beurteilen zu können.
Was das Internet angeht, so wird es in den kommenden Jahren nach Melanie Huber durch folgende Merkmale, Anwendungen und Verhaltensweisen gekennzeichnet sein.[46]
– die Macht des Kollektivs / kollektive Intelligenz,
– aktive Produzenten von Inhalten,
– Konsumenten / Verbraucher üben Einfluss aus,
– User generated content,
– Persönliche Treffen und direkter Austausch,
– „social“ als Merkmal für einen Dienst,
– die jahrelange Erfahrung der Kommunikationsexperten,
– Ehrlichkeit und Offenheit vs. Abschottung und Lüge,
– Leute betreiben Blogs oder private Webseiten,
– Menschen gehören Communities an,
– Gaming und Unterhaltung haben einen hohen Stellenwert,
– Preisvergleich und Transparenz,
– Empfehlungen von „Unabhängigen“ sind gefragt,
– Spam, Abzocke, raue Töne – das gehört zum Menschen dazu,
– Talente, Partner, Mitarbeiter werden entdeckt,
– Suche nach Konvergenz der Technologien.
Diese Einschätzung scheint mir realistisch zu sein, aber sie beruht auf dem Prinzip westlicher Prinzipien. Für China mögen die Dinge etwas anders liegen. Insonderheit steht die gesellschaftswissenschaftliche Betrachtung in einem Missverhältnis zur ökonomischen Bedeutung der Digitalisierung. Und hier ist in China das Potenzial groß.
[1] Als neuere Veröffentlichung hierzu Kathrin Voss (Hrsg.): Internet und Partizipation. Bottom-up oder Top-down? Politische Beteiligungsmöglichkeiten im Internet. Wiesbaden 2014 (Springer).
[2] Klaus-Dieter Müller: WWW. Internet-Abgeordnete .de . Die digitale Welt und das Rollenverständnis von Abgeordneten. Berlin 2007 (Vistas), S. 18.
[3] Müller 2007, a.a.O., S. 77.
[4] Heiner Meulemann: Soziologie von Anfang an. Wiesbaden 2006 (Verlag für Sozialwissenschaften).
[5] Andreas Hepp: Medienkultur. Die Kultur medialisierter Welten. Wiesbaden 2013 (Springer), S. 8 f.
[6] Andreas Ziemann: Medienkultur und Gesellschaftsstruktur. Soziologische Analysen. Wiesbaden 2011 (Verlag für Sozialwissenschaften), S. 30 f.
[7] Hepp 2013, a.a.O., S. 14 ff.
[8] Hepp 2013, a.a.O., S. 21.
[9] Kai-Uwe Hugger / Markus Walber (Hrsg.): Digitale Lernwelten. Konzepte, Beispiele und Perspektiven. Wiesbaden 2010 (Verlag für Sozialwissenschaften).
[10] Manfred Spitzer: Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. München 2014 (Droemer).
[11] Kai-Uwe Hugger / Markus Walber: Digitale Lernwelten: Annäherungen aus der Gegenwart. In: Hugger / Walber (Hrsg.) 2010, a.a.O., S. 9 – S. 18, S. 9 – S. 12.
[12] Ulf-Daniel Ehlers: Qualität für digitale Lernwelten: Von der Kontrolle zur Partizipation und Reflexion. In: Hugger / Walber (Hrsg.) 2010, a.a.O., S. 59 – S. 73, S. 60 f.
[13] Johannes Fromme / Ralf Biermann / Alexander Unger: „Serious Games“ oder „taking games seriously“? In: Hugger / Walber (Hrsg.) 2010, a.a.O., S. 39 – S. 57, S. 43.
[14] Spitzer 2014, a.a.O., S. 94 f.
[15] Andreas Neider: Aufmerksamkeits-Defizite. Stuttgart 2013 (Verlag Freies Geistesleben), S. 48.
[16] Andreas Belwe / Thomas Schulz: Smartphone geht vor. Wie Schule und Hochschule mit dem Aufmerksamkeitskiller umgehen können. Bern 2014 (kep Verlag).
[17] Petra Löffler: Verteilte Aufmerksamkeit. Eine Mediengeschichte der Zerstreuung. Zürich und Berlin 2014 (Diaphnes).
[18] Paula Bleckmann: Medienmündig. Wie unsere Kinder selbstbestimmt mit dem Bildschirm umgehen lernen. Stuttgart 2012 (Klett-Cotta), S. 14.
[19] Bleckmann 2012, a.a.O., S. 30.
[20] Tanja und Johnny Haeusler: Netzgemüse. Aufzucht und Pflege der Generation Internet. München 2012 (Goldmann).
[21] Belwe / Schutz 2014, a.a.O., S. 33.
[22] Is mobile media an accepted tool to communicate for seniors or an obstacle and if so, why? In: Schlussbericht zum EU-Projekt “We are Family! Mobile Communications of Seniors among Generations” im Rahmen des Grundvig-Programms (lebenslanges Lernen) Projektnummer: 2011-1-DEZ – GRU 06 – 08127 -306 – 08127 -3 .
[23] Ulrike Jureit: Generationenforschung. Göttingen 2006 (Vandenhoek & Ruprecht), S. 86.
[24] Andreas Lange: Medien und Generationen. In: Auf dem Weg zu einer Generationenpolitik (Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften Bern 2010), S. 165 – S. 180.
[25] Gehrke 2010, a.a.O., S. 161 ff.
[26] Joachim R. Höflich / Georg Kircher: Handy – Mobile Sozialisation. In: Vollbrecht / Wegener (Hrsg.) 2010, a.a.O., S. S. 278 – S. 286, S. 283.
[27] Burkhard Schäffer: Mediengenerationen, Medienkohorten und generationsspezifische Medienpraxiskulturen. Zum Generationenansatz in der Medienforschung. In: Bernd Schrob / Anja Hartung / Wolfgang Reißmann (Hrsg.): Medien und höheres Lebensalter. Theorie – Forschung – Praxis. Wiesbaden 2009 (Verlag für Sozialwissenschaften), S. 31 – S. 50, S. 46. Hervorhebungen ebd.
[28] Richard Harper: Der technologische Wandel und das Leben der Teenager. In: Peter Glotz / Stefan Bertschi / Chris Locke (Hrsg.): Daumenkultur. Das Mobiltelefon in der Gesellschaft. Bielefeld 2006 (transcript), S. 117 – 132, S. 118.
[29] Jane Vincent: Emotionale Bindungen im Zeichen des Mobiltelefons. In: Glotz / Bertschi / Locke HHrsg.) 2006, a.a.O., S. 135 – 142, S. 139.
[30] Belwe / Schutz 2014, a.a.O., S. 22.
[31] Spitzer 2014, a.a.O., S. 127.
[32] Philippe Wampfler: Generation „Social Media“. Wie digitale Kommunikation Leben, Beziehungen und Lernen Jugendlicher verändert. Göttingen 2014 (Vandenhoeck & Ruprecht), S. 53 f.
[33] Klaus-Dieter Müller: Wissenschaft in der digitalen Revolution. Klimakommunikation 21.0. Wiesbaden 2013 (Springer), S. 21.
[34] Klaus-Dieter Müller: Erfolgreich Denken und Arbeiten in Netzwerken. Networking als Kulturtechnik. Wiesbaden 2013 (Springer).
[35] Markus Schroer: Kultursoziologie. In: Georg Knaur / Markus Schroer (Hrsg.): Handbuch Spezielle Soziologien. Wiesbaden 2010 (Verlag für Sozialwissenschaft), S. 197 –S. 220, S. 200.
[36] Die folgenden Ausführungen nach Werner Pepels: Handbuch des Marketing. München (6)2012 (Oldenbourg), S. 1398 – S. 1405.
[37] Wencke Gülow: Interkulturelle Kompetenz in der geschäftlichen Kommunikation zwischen Deutschen und Chinesen. Eine qualitative Untersuchung. Hamburg 2014 (Verlag Dr. Kovac), S 53.
[38] Die Indizes der jeweiligen Kulturdimensionen sind als Punktewerte zu interpretieren (0 = Minimum, 100 = Maximum)
[39] Verena Nowotny / Ingrid Fischer-Schreiber: Der chinesische Geist und seine politischen Wirkungen. Kulturelle Grundgesten des Reichs der Mitte – und ihre Folgen für zu erwartende strategische Grundhaltungen. In: Roland Benedikter / Verena Nowotny (Hrsg.): China. Situation und Perspektiven des neuen weltpolitischen Akteurs. Mit einem Vorwort von Wolfgang Schüssel. Wiesbaden 2014 (Springer), S. 33 – S. 71, S. 39.
[40] Nowotny / Fischer-Schreiber 2014, a.a.O., S. 56.
[41] Nowotny / Fischer-Schreiber 2014, a.a.O., S. 61 f.
[42] Bin Zhao: The Little Emperor’s New Toys. A Critical Inquiry into Children and Television in China. Heidelberg 2013 (Springer), S. 51.
[43] Rumin Luo: Becoming Urban: State and Migration in Contemporary China. Kassel 2014 (Kassel University Press).
[44] Hanyun Huang: Social Media Generation in Urban China. A Study of Social Media Use and Addiction among Adolescents. Heidelberg 2014 (Springer).
[45] Hardy Yong Xiang: Introduction. 2011 – 2015: Principles of National Cultural Strategie and Cultural Industry Development. In: Hardy Yong Xiang / Patricia Ann Walker (eds): China Cultural and Creative Industries Report 2013. Heidelberg 2013 (Springer), S. 1 – S. 9.
[46] Melanie Huber: Kommunikation und Social Media. München 2013 (UVK), S. 211.
Download (pdf):Digitalisierung und Kultur
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